Aus dem Geflüchtetenlager auf Lesbos erreichen uns heute, ein halbes Jahr nach dem großen Brand, kaum noch Nachrichten. Um das Thema nicht aus dem Blick zu verlieren, haben wir mit einer freiwilligen Helferin gesprochen, die selbst vor Ort war.
Contentwarnung: Der folgende Artikel thematisiert Migration und enthält Beschreibungen, sowie Abbildungen von gewaltvollen Verhältnissen. Die Inhalte und grafischen Darstellungen können potenziell retraumatisierend oder triggernd wirken.
März 2021. Während die Temperaturen in den Minusbereich sinken, kämpfen rund 7.500 Geflüchtete, die noch immer auf der griechischen Insel Lesbos festsitzen und in provisorischen, komplett überfüllten Sommerzelten um ihr Überleben.
Vor wenigen Monaten hat das Flüchtlingscamp Moria die Nachrichten und die Demonstrationen auf den Straßen beherrscht. Das maßlos überfüllte Lager und die schlechten Bedingungen im Camp sorgten für Aufruhr und Protest. Doch jetzt, ein halbes Jahr nach dem großen Brand, der das ursprüngliche Lager beinahe vollständig niederbrannte, gibt es kaum Informationen aus der neuen Unterkunft, die sich auf dem ehemaligen Militärgelände „Kara Tepe“ befindet.
Kira, 21 Jahre, war selbst für dreieinhalb Monate als Rettungshelferin in der medizinischen Station des Camps in Moria tätig. „Es ist dreckig, es ist schmutzig, es ist katastrophal“, sagt sie über die Situation vor Ort. „Ein ganz, ganz großer Teil im Leben der Menschen dort ist Warten. Sie stehen an für die Foodline, sie stehen an für die Duschen, sie stehen an für die Klos, sie stehen an für den Doktor, sie stehen an für Alles. Und vor allem warten sie auf ihre Asylverfahren, auf die Zukunft und auf ihre Angehörigen. Ein ganz großer Teil ist Warten und Unsicherheit.“
Ein Flächenbrand aus Wut und Verzweiflung
Auch den Brand in der Nacht vom 8. auf den 9. September 2020, der das Camp vollständig zerstörte, hat Kira persönlich miterlebt: „Natürlich waren wir alle irgendwie erschrocken, aber niemand war so richtig überrascht, dass es dort brannte. Die Spannungen im Camp waren total hoch, unter den Geflüchteten, unter den NGOs. Alle waren gestresst, alle waren wütend.“Auch die Wut der griechischen Inselbewohner:innen kann Kira nachvollziehen. „Sie haben auch ein Recht zur Wut. Die sogenannte Flüchtlingskrise wurde zu ihrem Problem gemacht, als man sie damit alleine gelassen hat.“
Zum Zeitpunkt des Brandes befand sich Kira, zusammen mit anderen Freiwilligen, in ihrer gemeinsamen Unterkunft im Zentrum der Insel-Hauptstadt Mytilini. Über Social Media und Whatsapp-Gruppen erhielten sie die Nachricht über den Ausbruch des Feuers. Kurzerhand beschlossen sie hinzufahren, um ihre Kolleg:innen, die im Camp untergebracht waren, zu evakuieren: „Wir haben Wundversorgungsmaterial eingepackt und sind losgefahren. Auf der Zufahrtsstraße nach Moria kamen wir nicht weiter. Militär, Polizei, Rettungs- und Feuerwehrkräfte haben die Straße gesperrt. Die standen einfach alle da und haben nichts gemacht. Aber das Feuer war zu dem Zeitpunkt auch schon zu groß, um es löschen zu können“, erinnert sie sich. „Uns kamen Ströme von Menschen entgegen, teilweise mit Rucksäcken und all ihren Sachen im Gepäck.“
Als kein Durchkommen möglich war, versuchte Kiras Gruppe von einer anderen Seite an das Camp heran zu kommen. Auf dem Weg wurden sie von griechischen Inselbewohner:innen angegriffen. Sie versuchten, die freiwilligen Helfer:innen zu stoppen und aus dem Auto zu zerren. „Sie haben geschrien: Lasst sie brennen, lasst sie brennen“. Schließlich wurde ihnen ein großer Ziegelstein in die Heckscheibe geworfen.
Sie schafften es zu entkommen und sich unter die Geflüchteten zu mischen. „Eine Situation der Massenpanik“, so beschreibt Kira die Lage. „In dem Moment dachte ich echt, da sterben gerade tausende von Menschen.“Doch bis heute liegt die offizielle Zahl der Todesfälle bei null.
Obwohl es sich sehr eindeutig um Brandstiftung handelte, ist bis heute unklar, wer für das Feuer verantwortlich ist. Eine allgemeine Vermutung liegt bei den minderjährigen Geflüchteten, weil diese so unverwundbar seien und ihnen keine Strafverfolgung drohe: „Von denen wurden auch schon welche verhaftet. Aber es ist auch immer noch nicht wirklich klar, ob die das waren und ob die das aus eigenem Antrieb gemacht haben oder ob sie dafür bezahlt wurden. Und wenn ja, wurden sie vielleicht von Griech:innen bezahlt? Wurden sie von anderen Geflüchteten bezahlt? Wurden sie vielleicht sogar von einer NGO bezahlt? Es gab da die wildesten Vermutungen und Gerüchte.“
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Neues Camp – Neue Hoffnung?
Leider nein. Nach dem Brand waren mehr als zwölftausend Menschen praktisch wieder auf der Flucht. Es folgte eine tagelange Notsituation, in der die Menschen auf der Straße ausharren mussten, eingekesselt von Polizei und Militär, bis ein neues Lager errichtet war. „Die Leute haben bei Lidl auf dem Parkplatz geschlafen“, erzählt Kira. „Es ist krass wie unglaublich kreativ die Leute geworden sind, in dieser Zeit der Not. Die Geflüchteten haben aus allen möglichen Resten, die sie in Moria zusammengesammelt haben, angefangen neue Zelte aufzubauen. Sie haben aus den Resten gekocht und alles miteinander geteilt. Sie haben so unglaublich viel Resilienz und Widerstandsfähigkeit, so unglaublich viel Positivität gezeigt.“
Kira berichtet von Protesten, die in dieser Zeit stattgefunden haben. „We want Freedom“ stand auf den Plakaten, die die Geflüchteten der Polizei und dem Militär entgegenhielten. Diese seien sehr brutal gegen die Demonstrant:innen vorgegangen. Kira beschreibt kriegsähnliche Zustände: Polizist:innen, die mit Schreckschusspistolen und Tränengas in unbewaffnete Menschenmengen schossen, Hubschrauber, die über den Köpfen kreisten. Auf ihrem Handy spielt sie Videos ab, die sie selbst vor Ort aufgenommen hat. Es ist schwer zu begreifen, wie diese Geschehnisse hier keine Öffentlichkeit bekommen. Wieso werden diese Szenen in den Medien einfach nicht gezeigt, wobei es doch so viele Beweise dafür gibt, dass so etwas dort tagtäglich passiert?
Hilfe von Staat oder Militär gab es nicht – sogar das Gegenteil: „Ich habe mich da zum Teil mit anderen Freiwilligen selber organisiert. Den einen Tag haben wir zusammen gekocht. Wir hatten fünf tausend Mahlzeiten und achttausend Liter Wasser, die wir auf den Parkplatz zu den Menschen bringen wollten. Wir waren durch und durch organisiert und waren ready das da rein zu bringen und dann hat uns das Militär das einfach verboten“, fasst Kira zusammen. „Es wurde strukturell verboten, dass wir da helfen.“
Sechs Tage lang wurde eine richtige Versorgung mit Nahrung und Getränken unterbunden, so Kira. „Dann haben sie Flugblätter verteilt und gesagt, wenn ihr ins neue Camp geht, bekommt ihr Essen, Zelte, Decken und schnelle Asylverfahren.“
Doch aus diesen Versprechungen wurde nichts. Das neue Camp, das innerhalb weniger Tage auf dem ehemaligen Militärgelände Kara Tepe errichtet wurde, sah zu Anfang sehr fortschrittlich aus. Strahlend weiße Zelte in Reih und Glied. Weiß sind diese Zelte lange nicht mehr und die Situation ist vielleicht schlimmer denn je.
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Triggerwarnung: Polizeigewalt
„Letztendlich waren es nur Maschen, um die Menschen dort hereinzulocken“, vermutet sie. „Jetzt sind die alle im neuen Camp und sie bekommen nichts zu essen und sie müssen sich im Meer waschen. Das ist auch nicht besser, als bei Lidl auf dem Parkplatz zu schlafen.“
Auf dem Grundstück wurde viel alte Munition gefunden, Reste von chemischen Waffen und Granaten. Der Boden ist mit giftigem Blei verseucht. Abgesteckt ist das Gelände mit Stacheldraht, der schon in den ersten Tagen zu schweren Verletzungen geführt hat. Panorama berichtet, dass die provisorischen Sommerzelte zu großen Teilen keinen Boden haben, bei den aktuellen Wetterbedingungen überschwemmen sie also regelmäßig. Es fehle immer noch an fließend Wasser, Strom und warmem Essen. Insbesondere die hygienischen Bedingungen sind katastrophal. Nach Angaben der medizinischen Hilfsorganisationen vor Ort leiden rund 40% der rund 7.500 Bewohner:innen an Krätze.
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Ein abgekartetes Spiel?
Deutschland versprach noch im September die Aufnahme von 1.553 Menschen aus dem Lager. Nachdem die Ankunft der ersten Geflüchteten, drei Wochen nach dem Brand, medial groß gefeiert wurde, stagnierte der weitere Vorgang. Bis heute wurden von diesen rund eineinhalbtausend Menschen nur 291 Menschen aufgenommen. Auf Nachfrage verweist das deutsche Bundesinnenministerium nach Griechenland. Die dortigen Behörden seien, neben den Umständen der Corona-Pandemie, einer der Gründe für die Verzögerungen. Diese seien für die Auswahl und Umverteilung der Menschen zuständig.
Für genau diese Aufgaben, das Management der Flüchtlingspolitik und den Aufbau einer Infrastruktur in den Camps, bekam Griechenland seit 2015 knapp drei Milliarden Euro von der Europäischen Union. Zuletzt kam im November, nach dem Brand, eine Zahlung über fünf Millionen Euro.Bei Äußerungen seitens der griechischen Politik, liegt der Verdacht nahe, dass das Leiden so gewollt ist: eine brutale Abschreckungsmethode. Der Vizeparteichef der Regierungspartei Nia Demokratia äußerte sich bei einer Rede im griechischen Fernsehen folgendermaßen: „Damit sie aufhören zu kommen, müssen sie hören, dass es denen die hier sind schlecht geht.“ Doch die Verantwortung liegt nicht allein bei der griechischen Regierung, sondern bei allen Mitgliedsstaaten der EU.
Kira sieht für ihre Arbeit auf Lesbos keine Zukunft. „Ich hätte auch noch bleiben können und in dem neuen Camp weiterarbeiten können, aber für mich war klar: ich möchte nicht in dem neuen Camp arbeiten, unter dem Kommando von Militär und Polizei, in einem Moria 2.0, mit noch schlimmeren Bedingungen. Ich kann das für mich politisch nicht verantworten. Das Ganze noch mal mitzumachen und zuzuschauen, wie Geschichte wiederholt wird. Das konnte ich einfach nicht rechtfertigen für mich selbst.“
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Blick in die Zukunft
Ihre persönlichen Erfahrungen, die sie während der Zeit auf Lesbos gemacht hat in Worte zu fassen, fällt ihr sichtlich schwer: „Ich kann es immer noch nicht richtig fassen, wie das war. Mir war vorher klar, dass ich da nicht wirklich viel ausrichten kann. Am Ende ist Moria politisch gewollt und es ist auch politisch gewollt, dass sich die Bedingungen im Camp nicht verändern.“ Sie fände es einfach erschreckend, was Menschen einander antun könnten. „Alle Menschen die ich da getroffen habe, die geflohen sind, haben mir gesagt, dass sie es bereuen hier her gekommen zu sein. Und das nach allem was sie auf ihrer Flucht erleben mussten. Ist das europäische Solidarität? Ist das, wie wir mit Menschen in Not umgehen sollten?“ Am Anfang habe sie das noch wütend gemacht, doch ihre Erfahrungen vor Ort haben den Wut betäubt. „Mittlerweile kommt das gar nicht mehr an bei mir, weil ich da einen Hammer nach dem nächsten erlebt habe.“
Ihr Resümee ist gleichzeitig ein Aufruf an uns alle. Wir müssen weiter darüber sprechen, aufdecken, Öffentlichkeit schaffen und politisch Druck ausüben: „Dabei dürfen wir aber nicht das Elends- und Opfernarrativ in den Fokus stellen. Es sind die Umstände, es ist Europa, es sind wir mit unserer imperialistischen Lebensweise, die diese Menschen in diese Situation bringt – das liegt nicht den Menschen selbst. Die deutsche Medienberichterstattung zeigt die Menschen in Moria als homogene Masse von “Fremden” und spricht ihnen jede Handlungsmacht ab.“
Ein Artikel von Ronia Reichel