Für die meisten ist Tschernobyl der Schauplatz einer schrecklichen Katastrophe und wer würde diesen Ort mit boomendem Tourismus und illegalen Besuchen der Sperrzone verbinden?
Die Cash-Cow-Katastrophe
Wenn man an Tschernobyl denkt, erscheinen einem als erstes die verfallenen Gebäude vor Augen, die fast schon ikonische Silhouette des Atomkraftwerks und vielleicht noch die Natur, die sich langsam zurückholt, was ihr einst genommen wurde. Woran man nicht denkt, ist der boomende Tourismus und die vielzähligen Touristen, die tagtäglich ein paar Stunden Endzeitstimmung in sicherem Rahmen erleben wollen. Der Schein einer geisterhaften, verlassenen Gegend trügt. Inzwischen wollen etwa 50.000 Menschen jährlich diese Erfahrung machen und sind ein ernstzunehmender wirtschaftlicher Faktor in der Region.
Der größte Anbieter von Touren nach Tschernobyl (Chernobyl Tour) nimmt an, dass sich die Zahl der Touristen nach überwundener Coronavirus-Pandemie verdoppeln könnte. Die Nachfrage nach Orten, deren Reiz gerade darin liegt unheimlich und lebensfeindlich zu sein, hat stark zugenommen. Nicht zuletzt durch eine hohe „shareability“ kann Tschernobyl bei den Touristen aus aller Welt punkten. Erst kürzlich wurde der Kontrollraum des Atomkraftwerks unter strengen Auflagen für Touristen geöffnet.
Auf der Hut – Die Stalker von Tschernobyl
Nicht nur Touristen können sich für die sogenannte „exclusion zone“ begeistern. Verborgen vor den Blicken der Tagesgäste findet ein Katz-und-Maus-Spiel statt. Die illegalen Besucher der Zone, die sich selbst „Stalker“ nennen, unternehmen mehrtägige Expeditionen in die Sperrzone. Die Sicherheitskräfte versuchen dies zu verhindern – mit mäßigem Erfolg. Die Selbstbezeichnung „Stalker“ mag auf den ersten Blick seltsam erscheinen, geht aber als Referenz auf das gleichnamige, in Tschernobyl spielende Computerspiel zurück. Viele Stalker richten sich für die Dauer ihres Aufenthalts in den verlassenen Apartments ein, dekorieren, räumen auf und feiern Roof-Top-Parties. Jedoch verstehen sich die Stalker nicht als Zerstörer: Sie sind Gäste, die ihren Aufenthaltsort müllfrei wieder verlassen, anders als manche der regulären Touristen. Der Reiz des Verbotenen und die Verlockungen einer endzeitlichen Kulisse ziehen auch den YouTuber shiey in die Sperrzone. Etwa 1,1 Mio. Menschen nimmt er mit auf Free-Climbing-Touren und die Erkundung von Lost Places. Sein Motto lautet passend „illegal freedom“. Mit zwei weiteren Leuten und einer GoPro im Gepäck streift er durch die Sperrzone und kommentiert den Weg in flüssigem, aber derbem Englisch (Sieh die erste Folge hier. Seine Videos geben einen unverstellten Eindruck. Ob die Flucht vor den Reisegruppen, die Übernachtungen in den verwaisten Wohnblöcken, die Tagesausflüge zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt oder die laxe Einstellung zu Strahlendosen, shiey nimmt seine Zuschauer mit. Für alle, die während der Pandemie Eskapismus der besonderen Art vertragen können, sind shieys Tschernobyl-Ausflüge meine Empfehlung.
von Kai M. K. Müller
Bildquelle: Arne Müseler / www.arne-mueseler.com, CC BY-SA 3.0 de