In Bremen leben Hunderte ohne eine Wohnung und die Zahlen steigen. Jetzt will Bremen neue Wege in der Obdachlosenhilfe gehen. Die Idee ist einfach: Wohnungslose Menschen erhalten zuerst und bedingungslos Wohnraum. Als Unterstützung soll ein umfassendes Beratungsangebot bereit stehen. Ziel ist es, Betroffenen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.
In diesen Tagen werden am Bremer Hauptbahnhof die ersten Weihnachtsmarktstände aufgestellt, noch sind sie nicht beleuchtet. Abends vor der Eingangshalle sitzt Monika (Name geändert) auf einem Buch, um sich gegen den Bodenfrost zu schützen, und fragt die Passant*innen nach Kleingeld. Sie hat ihren Hund dabei, trägt eine olivgrüne Jacke und schwarzen Kajal, ihr Blick ist wachsam. Monika war früher auf dem Gymnasium, heute ist sie in einer Heroin-Ersatztherapie. Sie würde gerne arbeiten “was mit Holz oder am Liebsten mit Tieren machen”, sagt sie. Sie war jahrelang obdachlos. Aktuell hat sie eine Wohnung, “aber in Tenever” und der Schimmel dort belaste ihre Gesundheit.
Wohnungslosigkeit in Bremen steigt
Die Obdachlosigkeit steigt bundesweit. Laut der BAG Wohnungslosenhilfe waren im Laufe des Jahres 2018 ca. 678.000 Menschen in Deutschland ohne Wohnung. Das bedeutet einen Anstieg um 4,2 % zum Vorjahr. Trotz unserer kapitalistischen, reichen Gesellschaft, ist Obdachlosigkeit und Armut ein riesiges, akutes Problem. Die Wohnungslosigkeit steigt auch in Bremen. Offiziell soll es 500 bis 600 von Obdachlosigkeit Betroffene in der Bremer Stadtgemeinde geben. Die Dunkelziffer wird erheblich höher eingeschätzt. Woran liegen diese hohen Zahlen? Laut der BAG für Wohnungslosenhilfen an dem knappen bezahlbaren Wohnraum, verfestigter Armut, sozialer Ungleichheit, Mangel an sozialem Wohnungsbau und “es ist auch einfach alles viel teurer geworden” meint Monika.
“Niemand will jemanden anstellen, der keine Wohnung hat”
Bisher gibt es in Bremen viele nichtselbstständige Angebote für Menschen auf der Straße. Eine Art Notsystem, bei dem der Aufbau langfristiger Perspektive selten gelingt. Das bedeutet, vorrübergehende Notunterkünfte, sogenannte Schlichthotels oder betreutes Wohnen.
Die ZFW (Zentrale Fachstelle Wohnen) kann nicht genug Menschen in eigenen Wohnraum vermitteln. Sie verfügt selbst über keine ausreichenden Hilfsstrukturen oder Wohnraum.
Ein Hoteleigentümer, der Menschen von der ZVW vermittelt, gegen Bezahlung, aufnimmt, berichtet, dass die Menschen häufig stark psychisch belastet sind. Neulich sei ein junger Mann, eine halbe Stunde im Fahrstuhl gewesen und sei nicht ansprechbar gewesen. Er habe traumatisiert gewirkt. Der Eigentümer war überfordert. Er konnte keine psychologische Unterstützung erreichen. Die ZFW habe nicht genug Kapazitäten.
Der Weg für Menschen hin zur eigenen Wohnung, führt bis jetzt über ein langwieriges Stufenmodel und Wohntrainings. Leisten sich die Anwerber*innen Fehltritte, konsumieren z.B. Drogen, verlieren sie den Platz und die Chance auf eine eigene Wohnung. Sie fallen häufig zurück in Armut und Obdachlosigkeit, psychische und physische Belastungen erschweren die Regelung des eigenen Lebens. “Niemand will jemand einstellen, der keine Wohnung hat” erzählt Monika “sie müsse jeden Vormittag zum Arzt, sie könne nicht um 8 Uhr zur Arbeit erscheinen”.
Die wenigsten schaffen es aus diesem sogenannten Drehtüreffekt. Erfahrungen mit Krankheit, Gewalt und Drogenabhängigkeit, kann nahezu jede*r berichten. Monika beschreibt die Momente, wo ihr die Drogen einen kurzen Moment Ruhe verschaffen und sie “den ganzen Dreck” vergessen lassen.
Dringlichkeitsantrag gestellt: Menschenwürde statt Obdachlosigkeit
Jetzt hat die Bremer Rot-Grün-Rote Regierung reagiert. Am vergangenen Dienstag brachte sei einen Dringlichkeitsantrag zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit ein. Dieser wurde einstimmig beschlossen. Sie folgt damit Hannover, Hamburg, Berlin und anderen Kommunen, wo bereits “Housing First” Projekte erprobt werden. Housing First ist ein neuer Ansatz der US- amerikanischen Sozialpolitik. Und wurde in einigen Ländern des europäischen Raumes wie Finnland, Frankreich usw. ausprobiert.
Insgesamt stehe Deutschland noch ganz am Anfang mit Housing First, so Sofia Leonidakis, Abgeordnete der Linksfraktion, in der Bürgerschaft am 19.11.19.
Im ersten Schritt soll nun vom Senat ein Konzept ausgearbeitet werden, wie “Housing First” unter Berücksichtigung der Bremer Verhältnisse, umgesetzt werden könne. Leonidakis betont, das Ziel sei eine “erhöhte soziale Integration der Betroffenen, Sicherheit, Stabilität und Planbarkeit des eigenen Lebens”. Dieses Konzept leite einen “Paradigmenwechsel” in der Obdachlosenhilfe ein, so Leonidakis bei Twitter.
Monika sieht das Konzept kritisch
Monika findet den selbstständigen Ansatz von Housing First gut. Aber sie ist auch misstrauisch. “Muss man dafür clean sein?” In Finnland nicht. Im Bremer Drinnglichkeitsantrag taucht dieser Punkt nicht explizit auf. Sie könne sich das nicht so richtig vorstellen. Sie sei insgesamt pessimistisch. Eine Wohnungsvermittlung für sie, sei bei der ZFW aufgrund ihrer Drogenabhängigkeit, ohne Aussicht gewesen.
Auch die CDU Fraktion in der Bremischen Bürgerschaft hat am Dienstag noch Vorbehalte, was die konkrete Umsetzung von “Housing First” in Bremen angeht. Sie trägt den Antrag mit, aber nur aufgrund der sozialpädagogischen und psychologischen Begleitangebote, in die die Betroffenen eingebunden werden sollen, nachdem Wohnraum geschaffen wurde.
Für Sigrid Gröters von der CDU sind viele Fragen noch ungeklärt, erklärt sie in der Bürgerschaft. Sie pocht auch auf Voraussetzungen und Realisierbarkeit.
Die größte Mehrzahl der Obdachlosen möchte eine eigene Wohnung. Laut Leonidakis bestätigt sich dieser Wunsch durch eine Befragung der BAG Wohnungslosenhilfe.
Auch ich habe mehrere Menschen auf der Straße gefragt, was sie von Housing First halten. Alle Befragten würden eine Wohnung annehmen, wenn sie bedingungslos angeboten würde. Das würde “logischerweise” alles leichter machen.
In Finnland ist die Obdachlosigkeit durch “Housing First” enorm gesunken
In Finnland hat sich “Housing First” als Erfolgsmodell bewiesen, so ist hier, die Obdachlosigkeit seit Jahren rückläufig. Die bisherige Obdachlosenhilfe wird auf den Kopf gestellt: zuerst Wohnraum und dann das eigene Leben regeln, wirkt.
Eine Studie weise, laut Leonidakis, den positiven Effekt bei Pilotprojekten in ganz Europa nach.”Housing First” soll nachhaltig und langfristig unterstützen und den wohnungslosen Menschen die nötige Chance geben, ihr eigenes Leben selbstbestimmt in die Hand zu nehmen. Die Bereitschaft, Hilfe und Therapien anzunehmen, steigt demnach signifikant mit den eignen vier Wänden an.
Housing First ist langfristig günstiger
Besonders interessant ist, dass sich in Finnland über längere Zeit zeigt, dass “Housing First” nicht teurer ist, als das herkömmliche Notsystem. Im Gegenteil. Zum einen reduzieren sich durch den starken Rückgang der Obdachlosigkeit auch Kosten für medizinische Notfälle, Polizeieinsätze, Justitzkosten usw. Zum andern ist die Miete bei “Housing First” häufig günstiger, als die zeitweilige Unterbringung der Menschen in Schlichthotels und anderer zeitlich begrenzter Angebote. Laut Juha Kaakinen, Leiter der finnischen NGO Y-Foundation, spare Finnland etwa 15.000 Euro pro ehemaligen Obdachlosen im Jahr. Diesen Punkt und den Rückgang der Obdachlosigkeit in Finnland um ca. 77 % überzeugt insbesondere die FDP in der Bremischen Bürgerschaft und sie begrüßt die rotrotgrüne Idee, ein “Housing First” Konzept zu erarbeiten.
Was fehlt, ist Wohnraum
Die Senatorin Stahmann von den Grünen, gibt offen in der Bürgerschaft zu, dass Bremen aktuell nicht über den benötigten Wohnraum verfüge. Gleichzeitig mangle es an der Bereitschaft der Wohnungsgesellschaften, wie der Gewoba, neue Wohnungen bereitzustellen. Grund hierfür, ist aus deren Sicht, das fehlende Mitsprachrecht bei einer solchen Wohnraumvermittlung. Klar ist, dass die Stadt nicht nur viel mehr Belegrechte für die Obdachlosenhilfe erwerben muss, sondern auch neuen Wohnraum schaffen muss. Dafür benötigt die Stadt Haushaltsmittel, so Senatorin Stahmann.
Bis jetzt seien erst einmal 35 Plätze pro Jahr für “Housing First” eingeplant. Die sei “selbst für Bremen und ein Pilotprojekt, arg wenig”, kommentiert ein User bei Twitter unter einen Tweet der Bremer Grünen Abgeordneten Kai Wargalla. Kai Wargalla freut sich über die Wende in der Obdachlosenhilfe und antwortet, dass 35 Wohnungen natürlich nicht ausreichen, aber jährlich erhöht werden sollen.
Ein Zeichen der Hoffnung
Der Abgeordneten Pörschert (Bündnis 90 die Grünen) spricht in der Bremischen Bürgerschaft von “Housing First” als ein “Zeichen der Hoffnung”, das den Menschen wieder Vertrauen und Halt geben solle.
Sollte Wohnen nicht ein Grundrecht von allen Menschen sein? Der Deutsche Mieterbund fordert schon länger ein Grundrecht auf bezahlbares Wohnen und einer entsprechenden Verankerung im Grundgesetz. Hoffung und Veränderungen könnten Menschen, wie Monika, gut gebrauchen, besser heute als morgen.
“Die Perspektive der Leute hier kann ich dir sagen”, meint Monika und zeigt auf eine Gruppe Obdachloser einige Meter entfernt “wir werden alle irgendwann, irgendwo anonym verrecken”. In Hamburg und Norderstedt sind diesen November bereits drei Menschen erfroren.
Doch bis zur vollständigen Umsetzung von “Housing First”, werden noch einige Winter kommen. Einige Menschen, werde das nicht überleben. Trotz Kältebus, Notunterkünfte, Suppenküchen und all den guten Initiativen, die es in Bremen bereits gibt. Diese Angebote, sowie die ZFW will die Regierung auch weiterhin stärken.
“Die Stärke einer Gesellschaft misst sich v.a. an ihrem Umgang mit ihren schwächsten Mitgliedern” betont Leonidakis und möchte politisch im Sinne einer starken und solidarischen Gesellschaft handeln.
Politik muss Betroffene erreichen
Es gibt noch viel zu tun, denn warme Worte in der Bürgerschaft erreichen nicht immer die Lebenswirklichkeit der Betroffenen.Was trotzdem hilft. Viele Menschen auf der Straße freuen sich auch einfach über ein Gespräch. Das Gefühl und die Scham von der Gesellschaft verachtet und ausgestoßen zu sein, sitzt bei vielen sehr tief.
Und während ich mit Monika spreche, kommt eine junge Frau und fragt sie, ob sie etwas essen wolle. Das Gebiet um den Bahnhof ist für die Menschen auf der Straße ein wichtiger Lebens – und Treffpunkt. Viele Hilfsangebote, wie die ZFW, die Innere Mission, Suppenküchen usw. sind hier angesiedelt. Hier trifft sich das soziale Netzwerk, der Menschen auf der Straße. Für die Obdachlosen ist es eine starke Beschränkung, wenn sie von hier, wie wiederholt passiert, von der Polizei mit Platzverweisen vertrieben werden.
Wenig später reicht ein Mann Monika zwei Zigaretten. Sie bietet mir eine davon an. Nach dem Gespräch gehe ich in meine warme Wohnung, ein Privileg, das Hunderten Menschen in Bremen verwehrt bleibt. Das Bremer Bekenntnis zu “Housing First” kann ein wichtiger Schritt sein, damit sich das ändert.
Der Name der Autorin wurde auf eigenen Wunsch durch die Redaktion entfernt.