„Litauen, hm, was spricht man denn da? Russisch, oder?“ – Nein, das kleine Land im Baltikum hat tatsächlich seine eigene Sprache: Litauisch. Und nein, Litauen und Lettland sind nicht das Gleiche, auch wenn die Länder beide mit „L“ beginnen und nebeneinander liegen. Obwohl Litauen nur etwa 1000 Kilmeter von Deutschland entfernt liegt, und uns somit sogar näher ist als das von Deutschen besetzte Mallorca, weiß kaum jemand etwas über darüber, geschweige denn wo es denn liegt. Kommunikationsstudentin Anna lebt nun seit einem Semester dort und gibt Einblick in die Phasen des Kulturschocks, die man durchlebt, wenn man in einem Land wohnt, das etymologisch „Land des Regens“ bedeutet.
Phase 1: Lustige Sprache, außergewöhnliche Speisen und günstiges Bier
In der Wissenschaft wird die erste Phase des Kulturschocks treffenderweise auch als „Honeymoon“ bezeichnet: Alles ist neu, aufregend und die Endorphine in deinem Blut schlagen Purzelbäume. Mir erging es da nach meiner Ankunft in Litauen nicht anders. Voller Energie und Unternehmungslust verbrachte ich Tage damit, Vilnius, die Hauptstadt des Landes, in all seinen Facetten zu erkunden und stellte schnell fest, dass Litauen gar nicht so öde ist, wie man im Erdkundeunterricht in der 8. Klasse vielleicht dachte. Die malerische Altstadt lädt mit romantischen Gassen zu langen Spaziergängen ein, die Hipster unter uns fühlen sich im alternativen Künstlerviertel Užupis pudelwohl und auch an imposanten Kirchen mangelt es der Stadt keineswegs. Und überall liegt dann doch noch ein Hauch von Sowjetunion in der Luft – was es eben so anders macht.
Auch die litauische Sprache klingt zunächst irgendwie lustig und unterhaltsam mit ihrer eigenen Melodik und Buchstaben und Lauten, die wir Deutschen nicht einmal auszusprechen wagen. Bis heute ist der einzige Satz, den ich in dieser absurden Sprache zusammenbringe: „Atsiprašau, aš nekalbu ir nesuprantu lietuviškai!“ – was so viel heißt wie „Sorry, aber ich habe keinen Plan wovon du redest, wenn du Litauisch mit mir sprichst!“. Nichtsdestotrotz ist es irgendwie faszinierend, Unterhaltungen auf dieser Sprache zu lauschen und es ist ebenso faszinierend, dass man noch nicht einmal in der Lage ist, Straßenschilder, Werbeplakate oder Menükarten zu verstehen.
Die Euphorie und „Honeymoon“-Stimmung dieser Phase wird außerdem durch die niedrigen litauischen Preise in die Höhe getrieben. Ich kann mich nicht entsinnen, wann ich das letzte Mal in Deutschland weniger als 1€ für einen halben Liter Bier in der Bar bezahlt habe; Und auch ein 3-Gänge-Menü kann man sich hier für rund 10€ ruhig mal gönnen. In dem Menü darf dann natürlich nicht die knallpinke Rote-Beete-Suppe fehlen, eine überraschend gut schmeckende litauische Nationalvorspeise. Außerdem gibt es in Vilnius quasi überall Open Wi-Fi. Was will Generation Y schon mehr?
Phase 2: Willkommen im Land des Regens – und der Unhöflichkeit?
Anscheinend hatte ich mich vor meinem Aufenthalt nicht ausreichend informiert. Ich wusste nicht, dass „Litauen“ in litauischer Sprache im wahrsten Sinne des Wortes „Land des Regens“ bedeutet. Das durfte ich dann am eigenen Leib erfahren. Ich sag mal so: Wenn der Himmel zwar grau ist, es jedoch nicht aus Eimern schüttet, kein orkanartiger Wind herrscht und die Temperatur nicht unter die 0° Grenze rutscht, dann gilt das hier als richtig gutes Wetter. Anfangs freut man sich auch, wenn der Regen zu Schnee wird und sich die Stadt über Nacht in Winter Wonderland verwandelt – wer sonst kann schon bereits Ende Oktober Schneemann-Bilder posten? Diese Freude hält allerdings auch nur so lange an, bis alle Gehwege komplett vereist sind, man deswegen alle 10 Meter auf seinem Allerwertesten landet und sich das „100% Wasserfest“-Siegel auf den teuren Winterboots als Lüge herausstellt.
Vielleicht ist auch das Wetter daran schuld, dass die litauischen Landsleute eher schlecht gelaunt wirken und ständig grimmig dreinschauen. Ein „Dankeschön“, nachdem du einer älteren Dame den Sitzplatz im Bus angeboten hast? – Fehlanzeige. Jemand, der dir die Tür aufhält, während du mit drei Einkaufstüten und einem Kasten Wasser bepackt versuchst, deinen Schlüssel in den Tiefen deiner Tasche zu finden? – Nichts da. Nicht einmal ein Grußwort des Nachbarn, den man im Hausflur begegnet, oder ein Lächeln des Kellners, dem man großzügiges Trinkgeld gegeben hat, kann man erwarten. So sind sie eben, die Litauer: Passend zum Wetter dann doch eher frostig und verschlossen.
Und die Sprache ist auch spätestens dann nicht mehr witzig, wenn sie zur Sprachbarriere wird. Ihr denkt, man kann sich überall in Europa mit Englisch durchschlagen? Falsch gedacht! Besonders Litauer, die mehr als 30 Jahre auf dem Buckel haben, können nicht einmal deinen verzweifelten Kommunikationsversuch von „Sorry. Do you speak English?“ verstehen und werden aller Wahrscheinlichkeit nach wie folgt reagieren: a) Sie antworten dir unbeirrt auf Litauisch, b) Nachdem du den ach-so-hilfreichen und einzigen litauischen Satz rausgehauen hast, den du kennst, sprechen sie einfach Russisch mit dir (die Sowjetunion lässt grüßen) oder c) Sie wenden sich schlichtweg von dir ab, als hätten sie nichts gehört und behandeln dich wie Luft. Letzteres kann unfassbar frustrierend sein, vor allem wenn du wirklich auf die Kommunikation mit Litauern angewiesen bist. Zum Beispiel, wenn du in die Notaufnahme eines Krankenhauses gehst, weil du auf dem Glatteis ausgerutscht bist und dir die Hand verstaucht hast, und schlichtweg von sieben verschiedenen Krankenschwestern ignoriert wirst, weil du der litauischen Sprache nicht mächtig bist (True story!).
Phase 3: Litauische Mentalität verstehen und akzeptieren
Zugegebenermaßen habe ich in besagter zweiter Phase des Kulturschocks oft an der Richtigkeit meiner Entscheidung, nach Litauen gezogen zu sein, gezweifelt und war wochenlang mehr als frustriert. Dieses Gefühl geht aber auch vorüber, wenn man erst einmal ernsthaft versucht, Litauen und seine Landsleute zu verstehen und sich fragt, warum sie denn so sind, wie sie sind. Falls man denn überhaupt ergründen kann, warum ein Volk so ist, wie es ist.
Den Stein für diese Phase hat bei mir ein Vortrag meines litauischen-amerikanischen Professors ins Rollen gebracht. Er versuchte, uns die Eigenheiten des litauischen Volks näherzubringen, indem er erklärte: „Kennt ihr das Sprichwort ‚Harte Schale, weicher Kern‘? So sind Litauer nicht. Litauer sind keine Nuss, die man knacken muss, sondern vielmehr eine Zwiebel. Von außen haben sie eine scheinbar undurchdringliche Schale, mit viel Mühe und Zeitaufwand muss man Schale für Schale entfernen. Nicht selten werden dabei Tränen vergossen. Doch hat man all diese äußerlichen Schalen erst einmal entfernt, findet man pure Loyalität, Aufrichtigkeit und Treue als Belohnung.“
Na toll, ich muss die Litauer-Zwiebel also erst einmal schälen, bevor ich sie verstehen kann. Aber woher kommt diese Zwiebelschale denn eigentlich? Um litauische Mentalität auch nur ansatzweise zu verstehen, darf man nicht vergessen, dass Litauen erst seit Kurzem unabhängig ist und zuvor ein nahezu ununterbrochen besetztes Land war – sei es von den Polen, uns Deutschen oder letztlich der Sowjetunion. Dementsprechend tief sind Misstrauen und Zweifel in der kollektiven litauischen Mentalität verankert, was auf uns wiederum verschlossen, distanziert und gar unhöflich wirken kann. Aus diesem Grund gibt es statt Umarmungen und Küsschen hier eher gar keinen Empfang. Aus diesem Grund wird ständiges, grundloses Lächeln und übermäßige Freundlichkeit eher als Fake wahrgenommen statt als nette Geste. Und auch wenn Litauer es leid sind, ständig mit ihrer Vergangenheit als besetztes Land konfrontiert zu werden, ist diese für die Formung der litauischen Mentalität und Verhaltensweise maßgeblich. Außerdem ist Litauen mit seinem Beitritt vor 12 Jahren ein relativ junger Mitgliedstaat der EU, befindet sich aktuell noch in einer Umbruchsphase und muss schlichtweg noch vieles lernen – wie zum Beispiel die englische Sprache. Hat man das erst einmal verstanden, erkennt man, wie vielfältig und tiefgründig die Kultur dieser osteuropäischen Perle ist – ganz abseits von Regen, günstigem Bier und einer zwischenmenschlichen Umgangsweise, die schlichtweg anders ist als unsere eigene.
Anna Kokott