Läuft man durch die Straßen Bremens, gibt es viel zu entdecken, doch die Geschichte hinter den Fassaden bleibt oft im Verborgenen. Gemeinsam mit John Gerardu, habe ich mich auf die Suche nach Spuren aus der NS Vergangenheit meiner Stadt gemacht.
Das Projekt
Gerardu ist einer der Gründer des digitalen Projektes Spurensuche Bremen, arbeitet an der Initiative DENKORTE Neustadt mit und hat es sich zur Aufgabe gemacht, “Spuren von Personen und Orten im Kontext des Nationalsozialismus” nachzugehen, “wobei die Menschen sowohl Opfer sind wie auch Täter”. Die Spurensuche wurde 2009 ins Leben gerufen. Unterstützung gab es unter anderem von Student*innen der Hochschule Bremen. Sie haben das Design der Webseite entwickelt, die 2010 online ging. Es ist unter anderem eine Karte der Stadt zu finden, in der viele verschiedenfarbige Punkte auf Zwangsarbeit, Vernichtung, Unterdrückung und Widerstand aufmerksam machen. Und es werden immer mehr. Zu jedem Punkt gibt es detaillierte Informationen in Text und Bild. Die Inhalte stammen hauptsächlich aus intensiver Archivarbeit, aber auch aus Erzählungen von Zeitzeugen. Mithilfe der Karte kann man sich virtuell oder auch real – mit dem Smartphone in der Hand – durch die Stadt bewegen und vieles über die Vergangenheit der eigenen Umgebung lernen.
Die DENKORTE Initiative Neustadt wurde 2015 gegründet und ist eine Zusammenarbeit aus verschiedenen institutionellen und ehrenamtlichen Initiativen, einigen engagierten Bürger*innen und der Spurensuche Bremen. Mittlerweile gibt es dreizehn dieser Orte, die mit Stelen und Informationstafeln ausgestattet sind. Auch hier handelt es sich um Stationen der NS-Diktatur, die im Stadtbild wieder sichtbar gemacht werden sollen. Die DENKORTE sind bisher ausschließlich in der Neustadt und Huckelriede zu finden. Die Initiative selbst plant keine Erweiterung in andere Stadtteile, jedoch sind diese herzlich dazu eingeladen die Arbeit eigeninitiativ weiterzuführen.
Die eigene Stadt mit anderen Augen sehen
Unsere gemeinsame Stadtteilführung startete am Langemarck-Denkmal neben der Hochschule, das nicht nur wegen seiner Neugestaltung, sondern auch aufgrund der Black-Lives-Matter Bewegung aktueller nicht sein könnte. 1934 wurde der kriegsverherrlichende Steinblock mit Stahlhelm von den Nationalsozialisten aufgestellt und 1988 von Unbekannten umgestürzt. Seitdem dient er als Anti- Kriegs-Denkmal. Auch in diesen Tagen werden in den USA und in anderen Teilen der Welt ähnlich kritische Denkmäler umgestürzt oder in anderer Weise entfremdet. Das Bild, dass sich mir im Leibnizplatz-Park in den Neustadtswallanlagen auftat, empfand ich als sehr eindrucksvoll für die Erinnerungsarbeit. Im Park schien die Sonne, die Menschen saßen auf Bänken, tranken Kaffee, die Kinder tobten lachend über die grüne Wiese. Auf der DENKORTE-Tafel, die sich am südlichen Rand des Parks befindet, ist ein Bild zu sehen, auf dem derselbe Ort im Jahre 1943 abgebildet ist. Es zeigt die Trümmer des sich damals dort befindlichen Erdbunkers, der im selben Jahr bei einem Luftangriff zerstört wurde, wobei der Großteil der Schutzsuchenden umkam. Die schwere und gefährliche Arbeit der Beseitigung der Trümmer fand durch Zwangsarbeiter*innen statt. Gegensätzlicher hätten die Bilder zwischen der Szenerie, die sich mir bot und den Informationen und Fotografien auf der Tafel nicht sein können. Es ging weiter an der Grundschule Kantstraße, dem Friedhof Buntentor, mehreren Stolpersteinen und dem “Roten Haus”. Dies ist heutzutage ein unscheinbares, weiß gestrichenes Haus am Buntentorsteinweg, das früher einmal die Zentrale der Kommunistischen Partei Deutschlands war. 1933 wurde es von den Nazis eingenommen und als brutale Folterstätte ihrer Sturmabteilung (SA) genutzt.
Nach einigen weiteren spannenden Stationen, die mich meine eigene Stadt mit anderen Augen haben sehen lassen, endete unser Ausflug auf dem Gelände der ehemaligen Hindenburg-Kaserne in Huckelriede. Eine Stele und eine bildhauerische Skulptur erinnern an Opfer des Konzentrationslagers, das hier einmal war.
Von der Vergangenheit in die Zukunft
Eine solche Führung entlang der DENKORTE kann jede*r mitmachen. Sie finden auf Anfrage und auf Spendenbasis mit Gruppen zwischen fünf und zehn Personen statt. Bei Interesse kann man sich unter der Mailadresse info@spurensuche.de melden.
Aktuell befinden sich John Gerardu und sein Kollege Horst Otto mit ihren Helfer*innen auf der Suche nach den Spuren der Sinti und Roma. Ein Teil des Friedhofes Buntentor, der mittlerweile unter Denkmalschutz steht, ist für Angehörige der Sinti und Roma vorgesehen. Eine geplante Stele am Friedhof soll auf das Leid dieser Gruppe Verfolgter unter dem NS-Regime aufmerksam machen. Denn viele wissen nicht, dass auch Sinti und Roma von den Nazis systematisch verfolgt, unterdrückt und ermordet wurden. Gerardu beschreibt diese Arbeit provokativ als fast schon erfrischend, da er “immer wieder gezwungen (ist), neu zu gucken, neue Leute kennen zu lernen, einen Einblick zu bekommen in die Lebenswelt von Sinti und Roma heute”. Es sei ihm und seinen Kollegen wichtig, die vorhandenen “Spuren” zu erhalten und auf sie aufmerksam zu machen. Für die Zukunft würde er sich eine Zusammenarbeit mit dem Landesinstitut für Schule wünschen. Auf diese Weise wäre es möglich, mehr junge Menschen an das Projekt heranzuführen. Das ist besonders wichtig, sagt Gerardu, denn es sei “gerade die nächste Generation, die auch erfahren soll, was es damals passiert ist, damit es nicht vergessen wird.” Sonst hätte sein Projekt keine Zukunft. Für die Erhaltung des Projektes sei es außerdem ein wichtiger Schritt, die Arbeit an Institutionen wie das Focke-Museum oder die Landeszentrale für politische Bildung anzubinden. So könnten die künftigen Zuständigen für das Projekt auch bezahlt werden, denn auf ehrenamtlicher Basis wie bisher sei die Arbeit auf Dauer nicht zu stemmen. Aber auch die Bürgerinnen sind gefragt. Zu seinen größten Wünschen für das Projekt zählt, “dass
sich Leute auch einfach mal bei uns melden, die selber was herausgefunden haben und die das gerne auf unserer Seite publizieren würden”.
Für mich war die Stadtteilführung und das Kennenlernen dieses Projektes eine tolle Erfahrung, die ich jedem weiterempfehlen würde. Ich habe viel gelernt, engagierte Menschen erlebt und sehe meine Heimatstadt nun mit anderen Augen.
von Ronia Reichel